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Einen neuen Kanon hören (II)

Glenn Gould spielt Bach und Mozart

Am 10. April 1964 in Los Angeles trat der berühmte Pianist Glenn Gould zum letzten Mal öffentlich in einem Konzert auf. Gefreut hatte er sich schon länger darauf. Jetzt war es so weit. Er hatte genug von dem Zirkus.

Seiner ungnädigen Einschätzung nach hatte im Konzert niemand so recht die Chance, sich ein eigenes Urteil über die dort zu hörende Musik zu machen. Zu starr waren die Rituale, die das Konzertleben bestimmten. Und zu unverrückbar die Erwartungen, mit denen man als Einzelne:r im Publikum konfrontiert war.

Glenn Gould sah in den Möglichkeiten des Tonstudios dagegen eine unschätzbare Gelegenheit, zu einer in seinen Augen viel persönlicheren und ›ergebnisoffeneren‹ Kommunikation mit allen, die einzeln zuhörten, zu kommen, als das im Konzertsaal möglich war.

Er wurde zum Vertreter eines neuen Musikertyps. Nach den reisenden Virtuosen des 19. Jahrhunderts wie Paganini oder Liszt und ihren zahlreichen Nachfolger:innen etablierte sich Glenn Gould als der Klaviersolist, über dessen Flucht von der Konzertbühne sich Manche sehr erregten. Seine Einspielungen aber fanden eben trotzdem zuverlässig ihr Publikum.

Für die Zeitungen, Magazine und andere Medien war jemand wie Glenn Gould sowieso ein Glücksfall. Er war kontaktscheu und alle wollten von ihm wissen.

Tontechnik und Musikgenuss

Dabei war Glenn Gould mehr als ein herausragender Virtuose. Er schrieb und publizierte ausgiebig über musikalische und allgemeinere ästhetische Fragen, aber auch über noch abseitigere Themen. Von ihm gibt es u. a. Einführungstexte, Vorträge und aufwändig produzierte experimentelle Radio-Dokumentationen. Außerdem gibt es Texte, in denen Glenn Gould über den Musikbetrieb, die Tontechnik und vergleichbare Themen schrieb, häufig ironisch, immer wieder polemisch und meistens sehr pointiert.

In seiner Abneigung gegen den klassischen Konzertbetrieb hat er eine eigenwillige Medienästhetik formuliert, im Grunde eine Art Kommunikationsmodell mit zwei Seiten: Einerseits war es ihm ein Anliegen, im Tonstudio nach teils vielen Versuchen zu einer für ihn stimmigen Version der einzuspielenden Stücke zu finden, die ihm live auf der Bühne so nie geglückt wäre. Andererseits verändert die Tontechnik, so Gould, auch die Form, in der das Publikum Klassik hören kann. Jede:r einzelne Hörer:in kann zu einer Art Toningenieur des eigenen intimen Musikgenusses werden. Diese Vorstellung ist vielleicht heute aktueller denn je:

Wem eine Aufnahme nicht gefällt, der muss nicht buhen oder sich über ein teures Konzertticket ärgern. Stattdessen kannst Du – z. B. über diverse Streaming-Anbieter – entweder eine andere Aufnahme wählen oder sogar die Aufnahme nach Wunsch verändern. Die technischen Möglichkeiten reichen von einfachen Spotify-Playlists über preiswert zu habende Kopfhörer, Soundsysteme bis hin zu Open-Source-Software zum Sound-Editing. (Das Geld für eine solche Ausstattung und die Zeit, sich damit zu befassen, muss man haben oder investieren wollen…)

Glenn Gould spricht damit nicht über ein Publikum, das ins klassische Konzert geht, um »mal was Anderes« zu erleben. Gould geht es um Menschen, die durch Tonaufnahmen einen Genuss am Hören entwickeln können, der viel freier und ungebundener, aber auch informierter und tiefgründiger sein kann, als das in der Konzertsituation normalerweise möglich ist.

Die Aria der Goldberg-Variationen – in x Versionen

Ich habe mir einen Spaß daraus gemacht, eine Playlist zum Thema Goldberg-Variationen zu erstellen. Mit einer Ausnahme enthält sie nichts Anderes als nur die Eingangsaria, gespielt von ganz unterschiedlichen Interpreten. Das wäre Mitte der 1950er Jahre schon deswegen gar nicht möglich gewesen, weil damals noch kaum jemand diese Variationen überhaupt auf dem Schirm hatte.

Es war Glenn Gould, der die Goldberg-Variationen durch seine Aufnahme von 1955 einem größeren Publikum bekannt machte. Heute gibt es, wie man an der Playlist sehen kann, viele Dutzende von Aufnahmen dieser Komposition: manche in der ursprünglichen Version für Cembalo mit zwei Manualen, viele am Klavier. Es gibt aber auch eine ganze Menge von Arrangements, nicht nur für Tasteninstrumente wie Orgel oder Akkordeon, sondern auch für Gitarre(n), Harfe, Streichtrio, Bläserensemble etc.

Glenn Gould nahm die Goldberg-Variationen kurz vor seinem frühen Tod ein weiteres Mal auf. Das war im Jahr 1981. Mit dieser Aufnahme sind Bachs Variationen endgültig zu Glenn Goulds ›signature piece‹ geworden. Ich habe auch die Eingangsaria aus dieser späten Einspielung mit in die Playlist aufgenommen. Sie ist deutlich langsamer als die des jungen Gould.

Wer mag, kann mit dieser Playlist ein bisschen Memory spielen – es geht ganz einfach und ist in der Einsteigerversion nicht so schwierig: Beantworte, ohne auf die Liste zu schauen, nur die Frage, welches Instrument oder welche Instrumente spielen.

Die verschärfte Version geht so: Aktiviere die Zufallswiedergabe und hör der Liste zu, die jetzt in veränderter Reihenfolge abgespielt wird. Dann beantworte die Frage, wer gerade spielt. Nicht hinschauen bzw. erst dann hinschauen, wenn Du Dich auf einen Tipp festgelegt hast! (Ich bin noch nicht besonders gut in diesem Spiel. Aber wer so spielt, lernt die mehr oder weniger feinen Unterschiede zu hören, durch die sich die Aufnahmen voneinander unterscheiden.)

Den Kanon gegen den Strich bürsten

Über Glenn Goulds Aufnahmen der Goldberg-Variationen wurde viel geschrieben. Seine vielen Aufnahmen von Musik von J. S. Bach wurden viel kritisiert. Nicht allen gefällt, wie Gould spielt. Immer einmal wieder behauptet jemand, das sei weniger Bach, was man da höre, als Glenn Gould.

Eben auch deswegen aber ist der kanadische Pianist noch heute hörenswert. Nicht nur die Musik von Bach, sondern mehr noch zum Beispiel Stücke von Mozart und Beethoven hat Gould in einer Weise eingespielt, die manche seiner Hörer:innen richtig entsetzt hat. Glenn Gould konnte etablierte Hör-Erwartungen genussvoll unterlaufen, wenn er wollte. Seine Aufnahme von Beethovens »Appassionata« ist dafür ein Beispiel.

Mit solchen kleinen Eskapaden rüttelt er ein bisschen an dem Sockel, auf dem viele der Säulenheiligen der klassischen Musik noch heute stehen. Er tut das, in dem er gegen einen Habitus des Zuhörens opponiert, der in seiner manchmal etwas selbstgenügsamen Trägheit nur wiedererkennen und bestätigt bekommen will, was man sowieso schon kennt.

Denkmal von Johann Sebastian Bach in Arnstadt
Der junge Bach in Arnstadt
(Bildnachweis: Andreas Praefcke, Public domain, via Wikimedia Commons)

Glenn Gould spielt Mozart schaurig

Glenn Gould aber war auch deswegen so gut darin, viele seiner Hörer:innen zu provozieren, weil er seine Eskapaden am Klavier so gut und gewandt begründen konnte. On How Mozart Became A Bad Composer lautet der Titel eines seiner Vorträge. Und wenn man nicht einfach nur anderer Meinung sein will, muss man sich anstrengen, um Gegenargumente auf Augenhöhe zu finden.

Manchen seiner Aufnahmen kann man anhören, dass Glenn Gould Mozarts Sonaten mit etwas spitzen Fingern anfasst. Zum Beispiel klingt es ein bisschen schaurig, wie er das Thema aus dem Kopfsatz von Mozarts Klaviersonate in A-Dur KV 331 spielt. Dieses Thema vor den Variationen analysiert er eher, als dass er seine Melodik feiert. Dadurch klingt das Thema recht dünn. Die Musik lebt von der Melodie. Oder jedenfalls spielt die Melodie eine führende Rolle. Wenn man ihr die nimmt, indem man sie zergliedert, dann scheint ansonsten erst einmal nicht so viel übrigzubleiben.

Mozarts Klaviersonate A-Dur KV 331, 1. Satz mit Gould

Aber je öfter man zuhört, desto mehr fallen einem vielleicht kleine Details auf, die in Goulds Deutung eventuell deutlicher hervortreten als bei anderen Pianisten. Was mir zum Beispiel rasend gut gefällt, sind die Schlusswendungen ab Minute 0:36 und dann ab 1:22. Da schält sich plötzlich ein Choral aus dem zuvor skelettartig reduzierten Satz heraus, der im Kontrast zum Vorigen nur umso prachtvoller wirkt. Die erste Variation danach klingt für mich hochironisch. Sie swingt gemächlich vor sich hin. Und wie Glenn Gould mitsummt, das ist doch eine innigliche Parodie.

Wenn ich nur einen Tipp zum Hören geben sollte, wäre das: Hör mal genauer hin, wie und wo Glenn Gould mehrere gleichzeitig erklingende Stimmen voneinander abhebt, sodass sie alle wahrnehmbar werden, sogar manchmal die Mittelstimmen.

Glenn Gould spielt den 1. Satz aus Mozart Klaviersonate A-Dur KV 331.

Jemand, der Mozart besonders schön spielen konnte, war meiner Meinung nach Vladimir Horowitz. Wahrscheinlich lehne ich mich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage, dass seine Deutung für weniger Kontroversen Anlass bietet als die Deutung Glenn Goulds. So klingt der Kopfsatz von Mozarts Sonate bei Horowitz:

Vladimir Horowitz spielt den 1. Satz aus Mozart Klaviersonate A-Dur KV 331.

Einen neuen Kanon hören?

Glenn Gould hat berühmte und weniger berühmte Werke sehr berühmter Komponisten in einer manchmal unbequemen Weise gespielt. Dadurch hat er diese Werke neu hörbar gemacht, was noch nicht gleichbedeutend ist damit, einen neuen Kanon hörbar zu machen.

Als Musiker und streitbarer Interpret allerdings hat Glenn Gould durch seine Art zu spielen und Position zu beziehen Voraussetzungen geschaffen, Musik nicht auf der Basis eines Autoritätsarguments zu hören. Es kann schon sein, dass Musik von Bach, Mozart, Beethoven oder Anderen hochwertige Musik ist. Aber falls das im Einzelnen der Fall ist, dann nicht deswegen, weil sie von Bach, Mozart oder Beethoven ist. Und wer es selbst herausfinden und beurteilen können will, der muss sich eben die Mühe machen, sich selber ein begründetes Urteil zu bilden.

Zu verstehen, was die eigenen Kriterien sein könnten, anhand derer man entscheidet, was man von einem bestimmten Musikstück hält, dauert. Das geht nicht von heute auf morgen.

Aber meistens reicht es ja schon, sich klarzumachen, ob man ein Stück mag oder nicht. Es genügt, zu wissen, dass es dafür gute Gründe geben könnte, auch wenn man sie vielleicht noch gar nicht kennt – und auch wenn man den eigenen Geschmack sowieso niemandem gegenüber rechtfertigen will, der vorgibt, es besser zu wissen.

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