Glenn Gould spielt Bachs Goldberg-Variationen
New York City, Juni 1955 – es muss erfrischend gewesen sein, als der 22-jährige Glenn Gould zum ersten Mal in den Columbia-Studios in der 30th Street in Manhattan auftauchte, um dort Johann Sebastian Bachs Goldberg-Variationen einzuspielen.
Zwar soll es damals heiß gewesen sein und schwül. Trotzdem aber trug der Pianist, über den bald alle reden sollten, Pullover, Tweedjacket, Wintermantel, Schal, Mütze und Handschuhe. Außer Noten hatte er laut Pressemeldung der Columbia-Studios noch eine Reihe weiterer Utensilien im Gepäck: ein paar Flaschen des von ihm bevorzugten Mineralwassers, weil er das New Yorker Leitungswasser nicht mochte, Kopfschmerztabletten, außerdem Pillen zur Entspannung und für den Kreislauf.
Einen Stapel Handtücher brauchte er, weil er seine Hände vor dem Spielen bis zu den Unterarmen 20 Minuten lang in heißem Wasser badete. Um ihn herum gruppierten sich dabei bald gut gelaunt die Mitarbeiter des Studios, zu denen auch die Verantwortlichen für die Klimaanlage gehörten.
Glenn Gould vorm Klavier
Vor den Steinway-Flügel setzte Glenn Gould sich auf einen von seinem Vater eigens für ihn konstruierten Stuhl, der es ihm erlaubte, so tief wie nur möglich an den Tasten zu sein.
Wenn man sich heute anhört, wie er Bachs Goldberg-Variationen damals gespielt hat, dann kann einen das immer noch umwerfen. Die Aufnahme hat etwas Mathematisches, Abgezirkeltes, aber auch etwas energisch Temperamentvolles. Mal ist sie impulsiv, mal versonnen.
Schon in der Aria zu Beginn fällt das zügige Tempo auf, das für die Aufnahme insgesamt typisch ist. Manche der schnellen Variationen würden halsbrecherisch wirken, wenn Glenn Gould sie nicht so selbstsicher auf die Tasten zaubern würde, als wäre es nichts. Dazu kommt das Non-Legato-Spiel, für das Glenn Gould berühmt geworden ist: Er spielt nicht gebunden melodiös, sondern er setzt die Noten auch im schnellen Tempo feinsäuberlich voneinander ab. Das Ganze ist von einer so erfrischenden und teils showmanhaften Virtuosität, dass man diese 70 Jahre alte Aufnahme auch als mit ihr nicht einverstandener Kritiker noch heute unwiderstehlich finden kann.
Die Goldberg-Variationen – Entstehung
Bachs Werk ist bis 1741 entstanden. Laut dem Bericht seines frühen Biographen Johann Nikolaus Forkel hat Bach sie für seinen Gönner Graf Hermann Carl von Keyserlingk in Dresden geschrieben:
»Einst äußerte der Graf gegen Bach, daß er gern einige Clavierstücke für seinen Goldberg haben möchte, die so sanften und etwas muntern Charakters wären, daß er dadurch in seinen schlaflosen Nächten ein wenig aufgeheitert werden könnte. Bach glaubte, diesen Wunsch am besten durch Variationen erfüllen zu können, die er bisher, der stets gleichen Grundharmonie wegen, für eine undankbare Arbeit gehalten hatte. Aber so wie um diese Zeit alle seine Werke schon Kunstmuster waren, so wurden auch diese Variationen unter seiner Hand dazu. Auch hat er nur ein einziges Muster dieser Art geliefert. Der Graf nannte sie hernach nur seine Variationen. Er konnte sich nicht satt daran hören, und lange Zeit hindurch hieß es nun, wenn schlaflose Nächte kamen: Lieber Goldberg, spiele mir doch eine von meinen Variationen.«
Ob Johann Gottlieb Goldberg, der für Keyserlingk als Cembalist arbeitete, diese Variationen tatsächlich selbst spielte, ist einerseits umstritten. Schließlich war der 1727 in Danzig geborene Goldberg 1741 gerade einmal 14 Jahre alt. Andererseits fiel sein außergewöhnliches Talent schon auf, als er noch ein Kind war. Deshalb war er möglicherweise schon als 10-Jähriger in Keyserlingks Diensten. Später war er Schüler von J. S. Bach, der den Grafen im November 1741 beehrte und ihm vermutlich bei dieser Gelegenheit die bestellten Variationen vorbeibrachte.
Der Komponist wurde nach Forkel eventuell nie großzügiger für ein Werk belohnt:
»Der Graf machte ihm ein Geschenk mit einem goldenen Becher, welcher mit 100 Louis d’or angefüllt war. Allein ihr Kunstwerth ist dennoch, wenn das Geschenk auch tausend Mahl größer gewesen wäre, damit noch nicht bezahlt.«
Die Goldberg-Variationen – das Titelblatt
Schon das Titelblatt des Erstdrucks der Goldberg-Variationen deutet in feinsäuberlicher Schrift etwas über die Struktur von Bachs Komposition an:
Clavier-Übung / bestehend / in einer / ARIA / mit verschiedenen Veraenderungen / vors Clavicimbal / mit 2 Manualen. / Denen Liebhabern zur Gemüths- / Ergetzung verfertiget von / Johann Sebastian Bach …
Es ist ein Variationszyklus mit einer Aria als Thema, für ein Cembalo mit zwei Manualen, also mit zwei Tastaturen. Auf diesen voneinander getrennten Manualen können problemlos Melodien gespielt werden, die sich nicht nur aufeinander zu bewegen, sondern sogar überkreuzen. Auf nur einem Manual würden sich linke und rechte Hand in die Quere kommen, weil sie phasenweise den gleichen Tastenbereich brauchen. Wenn man die Goldberg-Variationen auf dem Klavier spielt, muss man dieses Problem irgendwie lösen…

(Bildnachweis: David Schou, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons)
Die Goldberg-Variationen – Gliederung
Gliedern lassen sich die 30 Variationen in 10 mal 3 Variationen, wobei am Ende dieser kleinen Dreierpuzzleteile jeweils ein Kanon eingebaut ist. Es sind keine gewöhnlichen Kanons. Bach wäre nicht Bach, wenn ihm das gereicht hätte. Er komponiert statt Kanons, deren Stimmen jeweils auf dem gleichen Ton einsetzen, Kanons, bei denen sich Kanon für Kanon der Einsatzton der Folgestimme erhöht: Während im ersten Kanon (Var. 3) die Stimmen zeitlich versetzt, aber auf dem gleichen Ton beginnen, ist es im zweiten Kanon (Var. 6) so, dass die zweite Stimme einen Ton höher einsetzt als die erste. In den folgenden Kanons geht das so weiter, bis in Variation 27 erster und zweiter Einsatz der Kanonstimme im Abstand einer None (9 Töne) zueinander stehen. Die Variation Nr. 30 ist ausnahmsweise kein solcher Kanon mehr, sondern ein Stück, in dem Bach kunstvoll zwei deftige Gassenhauer verarbeitet.
Variation 16 ist eine französische Ouvertüre. Typisch für diesen Ouvertürentypus sind die scharfen Punktierungen, also spannungsvoll verlängerte, weil punktierte Noten, zu denen auffällig kurze Töne hinüberleiten. Diese Variation steht in der Mitte der 30 Variationen und eröffnet damit deren zweiten Teil. Durch die Wiederholung der Aria am Schluss schließt sich der Kreis. Und wie anders fühlt sich das Hören an, wenn man die Aria nach den 30 vorangegangenen Variationen noch einmal hört!
Die grundlegenden Basstöne
Die zyklische Struktur der Variationen erschließt sich unaufdringlich, auch wenn man nicht analytisch hört. Das liegt daran, dass es von Anfang an nicht primär die Melodie der Aria ist, die Bach variiert. Die Basis für die Variationen bildet stattdessen die Basslinie. Je nach Blickwinkel besteht sie aus zunächst acht – oder eben insgesamt aus 32 – Takten, deren letzte zwei jeweils mit einem Quintfall enden (Fall von 5 Tönen nach unten:)

Wer die 32 Takte zugrunde legt, kann sich freuen, dass die Zahl der Takte fast jedes einzelnen Stücks der Zahl der Stücke insgesamt entspricht, wenn man zu den 30 Variationen die Anfangs- und die Schlussaria einzeln zählt. Nur die Variationen 3, 9, 21 und das Quodlibet, die Variation 30, begnügen sich mit insgesamt 16 Takten; die Basslinie muss sich also schneller entwickeln. Außerdem fällt die Variation 16 aus dem Rahmen.
Glenn Gould selbst hat die Basslinie der Goldberg-Variationen so charakterisiert: »Das vorliegende Werk verwendet die Sarabande aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach [das Büchlein ist in den 1720ern entstanden, M. P.] als Passacaglia … – das heißt, nur ihre Baßfortschreitung wird in den Variationen dupliziert«.
Und wie soll man das alles hören?
Unten gebe ich zu den Goldberg-Variationen außer einer Playlist eine kleine Liste mit Aspekten, auf die Du Dich beim Hören konzentrieren kannst, sofern Du die Variationen nicht nur nebenbei genießen willst, sondern sie konzentrierter hören möchtest – mit einem Ohr für die Details.
In der Liste sind Details angesprochen, die teils mit anderen Details aus dieser Liste zusammenhängen. Manchmal hört man ganz entspannt am meisten, nachdem man sich ohne Noten eine Weile auf das eine oder andere Detail konzentriert hat.
Und hier kommt die Liste:
- Steht das Thema bzw. dann die jeweilige Variation in einem geraden Takt oder nicht? Sind die Takte also in Zweier- oder Dreiergruppen unterteilt? (Es kann auch sein, dass ein Takt in sich in lauter kleine Dreiergruppen unterteilt ist (Triolen). Variation 11 z. B. ist im 12/16-Takt notiert, er hätte auch einen 3/4-Takt wählen können.
- Hörst Du die Basslinie, die ich oben erwähnt hatte? In der Aria ist es nicht so schwierig, sich auf den Fortgang der untersten Töne zu konzentrieren. In vielen Variationen hat Bach sehr viel verschlungener gearbeitet. Nicht überall ist die Linie so leicht nachvollziehbar wie z. B. in den Variation 4. Bach hält sich außerdem nicht dogmatisch an die Basslinie, wie ich sie oben abgebildet habe. Er hat sich Abweichungen erlaubt.
- Gleich ob Du die Basslinie hörst oder nicht: Kannst Du die 8er-Einheiten nachvollziehen? Sie sind durch Mitzählen erkennbar, aber auch durch die harmonische Gliederung. Immer am Ende einer solchen 8er-Einheit gibt es eine Art harmonische Zäsur, die man oft eher spürt als hört. Und hin und wieder kann man sich auf ein solches Gespür besser verlassen als auf das bloß kopflastige Mitzählen!
- In seiner frühen Aufnahme spielt Glenn Gould die Wiederholungen nicht. Das heißt: Er spielt tatsächlich jedes Mal genau 32 bzw. 16 Takte, und verdoppelt keine der beiden 16er- oder 8er-Gruppen. Wie würde sich die Balance ändern, wenn man mindestens eine dieser Gruppen wiederholen würde? (Ich würde jedenfalls die 8er-Gruppen besser nachvollziehen können.)
- Kannst Du die Kanons als Kanons erkennen? Sind die Einsätze der einzelnen Stimmen zumindest hier und da nachvollziehbar?
- Findest Du einen Kanon, in dem Du die Intervalle zwischen den Einsätzen hören kannst?
- Erkennst Du die Moll-Variationen?
- Kannst Du die Stimmkreuzungen hören: Wann greifen die Hände übereinander?
- Inwieweit hängen der harmonische Verlauf und das rhythmische Geschehen zusammen und inwieweit unterstützen die schnellen Tempi den Swing des Ganzen? (Ginge es auch langsamer, als Glenn Gould z. B. die Var. 20 spielt?)
- Was singt Glenn Gould da eigentlich so selbstvergessen mit? (Manchmal hört man ihn.)
(Fortsetzung folgt)
